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Alt 11.01.2012, 10:02   #32
Andrew.derLuchs
Landesfürst

 
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Das linientreue Unternehmen

Das linientreue Unternehmen

© HAZ - Hannoversche Allgemeine Zeitung | 10.01.2012 von Bernd Haase

Auf diese Auszeichnung hätte die Üstra, aus heutiger Sicht betrachtet, gerne verzichtet: Sie erhielt das Gaudiplom für besondere Leistungen. Das war im Jahr 1940, während der Diktatur des Dritten Reiches. „Schon allein dieser Titel zeigt, dass die Üstra zu dieser Zeit voll hinter dem nationalsozialistischen System gestanden hat. Sie war ein linientreues Unternehmen“, sagt Janet Freifrau von Stillfried. Die hannoversche Historikerin hat im Auftrag der Üstra deren Rolle in der Nazi-Zeit untersucht – vor allem, was die Beschäftigung von Zwangsarbeitern angeht. Ihr Werk ist jetzt unter dem Titel „Ein blinder Fleck“ erschienen.

Den blinden Fleck gab es tatsächlich in der schriftlich niedergelegten Vergangenheit des Verkehrsunternehmens. In diesem Jahr wird es 120 Jahre alt. „Wir haben aus diesem Anlass Material für eine Chronik gesichtet und festgestellt, dass wir über die Jahre zwischen 1938 und 1945 fast nichts wissen“, sagt der Vorstandsvorsitzende André Neiß. Nach Ende des Krieges habe es zwar Bilder von zerstörten Gleisanlagen gegeben, aber das Geschehen in den Jahren zuvor sei verdrängt und ausgeblendet worden. „Deshalb haben wir die Beschäftigung mit dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte an den Anfang des Jubiläumsjahres gestellt“, erklärt Neiß. Als man die Arbeit in Auftrag gegeben habe, sei man sich bewusst gewesen, dass das Ergebnis kein Ruhmesblatt werden würde.

Da hat der Vorstandschef recht behalten. Relativ schnell, so hat Janet Freifrau von Stillfried anhand von erhalten gebliebenen Ausgaben der damaligen Mitarbeiterzeitung „Nachrichtenblatt“ herausgefunden, drehten die damaligen Bosse der Üstra ihre Nase in den braunen Mief. „Mit der Kühnheit, die allen seinen Taten innewohnt, griff der Nationalsozialismus den Dingen an die Wurzel“, schrieb Vorstand Wiskott Anfang 1933. Gemeint war, dass auch bei der Üstra die Gewerkschaften abgeschafft und durch einen Betriebsobmann ersetzt wurden, dessen Hauptqualifikation in strammer Linientreue und bedingungsloser Durchsetzung der Parteiziele bestand.

Diese Rolle nahm Walter Freese ein, vormals Schaffner. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Funktion des Straßenbahnnetzes auch an harten Wintertagen sicherzustellen. Es wurde nicht nur zum Personen-, sondern auch zum Warentransport für Rüben, Milch, Kies, Ziegel und anderes gebraucht. Weil nach Kriegsausbruch viele Üstra-Mitarbeiter an die Front mussten, konnten die Stadtbahnen nur rollen, weil Zwangsarbeiter im Fahrdienst und für Arbeiten am Netz eingesetzt wurden. Insgesamt 788 von ihnen ließ die Üstra zwischen 1938 und 1945 für sich schuften – oft unter härtesten Bedingungen und körperlichen Schikanen bis hin zur Misshandlung. Dabei gab es Hierarchien. Westeuropäer, die bei der Üstra den größten Anteil der Zwangsarbeiter stellten, wurden weniger drangsaliert als Osteuropäer. Ganz am unteren Ende der Rangfolge standen wie überall die Juden.

Von Stillfried hat für ihr Buch vor allem auf Gespräche mit und Berichte von Zeitzeugen zurückgegriffen. Einer von ihnen ist der Jude Helmut Fürst aus Hannover, der vor seiner Deportation unter anderem im Schneeräumdienst eingesetzt war. Weil er angeblich seiner Arbeitsstelle unerlaubt ferngeblieben war, wurde er vom Vorgesetzten angeschwärzt und musste zur Gestapo. „Ich war vierzehn Tage in Untersuchungshaft und wurde in sadistischer Weise misshandelt“, sagt Fürst. Anschließend schickte man ihn für drei Wochen ins Arbeitserziehungslager (AEL) Liebenau – eine Einrichtung, in der angebliche Saboteure und Arbeitsverweigerer zur Räson gebracht werden sollten. Das geschah nicht zuletzt durch Folter.

Ein aus der Ukraine stammender Zwangsarbeiter namens Kondratiuk, damals 17 Jahre alt, musste Gleise instand halten. Er beschreibt ein Sonntagsvergnügen von Freese: Der Betriebsobmann hatte mit Frau und Tochter Posten auf einem Platz bezogen und dort 35 Männer hinbeordert. Wer es trotz Ausgezehrtheit und Entkräftung schaffte, den Platz hin- und wieder zurückzukriechen, sollte drei Zigaretten bekommen. Kondratiuk schaffte es nicht, dafür strich ihm Freese die Brotration.

Eine unrühmliche Rolle spielte die Üstra auch, weil in ihren Bahnen Juden ins Sammellager in Ahlem gebracht wurden. Von dort aus wurden sie weiter in Vernichtungslager im Osten geschickt. Insgesamt bleibt das Werk an dieser Stelle wie auch an einigen anderen vage. So weiß man zum Beispiel wenig bis nichts über die Rolle des Üstra-Vorstandes oder über das Schicksal der jüdischen Mitarbeiter, die schon vor 1938 bei der Üstra gearbeitet hatten. „Dazu war in den Archiven nichts zu finden“, sagt von Stillfried. Ein Grund dafür: Bei einem Ihmehochwasser 1947 wurden viele in einem Gebäudekeller auf dem Betriebshof Glocksee eingelagerte Akten vernichtet. „Wir hoffen, dass sich jetzt noch weitere Zeitzeugen melden, die uns berichten können“, sagt Neiß. Von Stillfried wiederum nennt das Vorgehen der Üstra mutig und nachahmenswert, sich den düsteren Jahren ihrer Vergangenheit zu stellen: „Es gibt bisher nicht viele Unternehmen, die das von sich aus tun.“ Das Buch „Ein blinder Fleck“ ist zum Preis von 16,95 Euro im hannoverschen Buchhandel und im Üstra-Kundenzentrum am Platz der Weltausstellung erhältlich.

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